Donnerstag, 6. April 2006
Der große Bahnhof
Da hat er mich inspiriert, der childerich. Am Wochenende hab ich mich mit einem Kumpel in Hof getroffen. Der Kumpel wohnt in Berlin, und da hat es sich angeboten. Jedem seine eine Hälfte durch Deutschland, eine Annäherung von Norden und Süden sozusagen.
Allein die Anreise wäre schon ein Blog wert, aber wenn’ s hier schon um Franken geht, dann zählt natürlich nur der Hofer Tag. Kaum zu glauben, dass hier auch mal kulturelle Großkampfveranstaltungen stattfinden. Im Grenzlandbahnhof fahren die ICEs des kleinen Mannes, die Regional Expressos ein, die so heißen, wie die Kaffeehaferl mit Sprühsahne hier überall heißen, und die Station ist schon der letzte Halt für verlorene Seelen. Was bewiesen wird im Bahnhofsgastrobereich.
Natürlich tut man Hof damit unrecht, solche Bahnhöfe findet man auch in Bebra, Wassertrudingen, Komsomolensk, aber die Wirkung ist doch immer die gleiche: Depression bei Ankunft.
Naja, wir haben uns nicht lange aufgehalten zwischen den Heiligen der letzten Tage und den ersten Frühlingsknospen und sind direkt ins Hotel, dem besten am Platz, nämlich am Maxplatz. Die schlecht geschminkte oder doch ein wenig kränkelnde Hotelsbesitzerin mit der glücklichen Haut einer gerade vergangengen Gelbsucht hat uns natürlich unumwunden sofort für schwul gehalten, worauf wir ihr die Bilder unserer Kinder gezeigt haben, was sie nicht davon abgehalten hat, augenzwinkernd unsere 'Arbeitsbeziehung' zu kommentieren. Aber im weltläufigen Hof ist das ja alles kein Problem.
Wir haben uns dann doch für Einzelzimmer entschieden, die einzeln und schwarz abgerechnet ganz günstig hergingen. Und die Einrichtung war auch ok, ich hab zumindest schon andere Stile gesehen. In der Slowakei zum Beispiel, als der Pförtner im Schloß sich in eine Fledermaus verwandelt hat und nie mehr gesehen wurde. Aber – andere Geschichte.
Und befreit von der Last des eigenen Gepäcks haben wir Hof City erkundet. Samstag nachmittags das blühende Leben in blühender Zonenrandlage, und man sieht allenthalben die Strukturfördermittel, die in der Vorwendezeit, als es praktisch noch vorwärts ging, in die Bastion am großen europäischen Zaun gepumpt wurden. Nein, wieder unrecht. Die Fußgängerzone ist ein nettes Stück Nachkriegsaltstadt mit allen Geschäften, die man so brauchen kann. Sehr wichtig Ulla Popken für die sportlichen Damen ab Größe 42 und die Mercur Spielothek. Es gibt viel Bier und Eis, hübsche Mädels, und der Frühling zeigt sich von der schönsten, weil winterbrechenden Seite. Wir suchen das Kneipenviertel, soviel Kultur macht durstig, und wir wollen uns mit den Einheimischen verbrüdern, gemeinsam Bier und die letzte Silbe verschlucken, bis das R nicht mehr gerollt wird und die Satzmelodie aus dem Fragen nicht mehr herauskommt.
Wir werden fündig im Bermuda-Dreieck zwischen der Esco-Bar (haha), dem Cafe, dessen Namen man augenblicklich vergisst und dem Alten Bahnhof, in dem wir uns nicht nur wegen des Anfangs der Geschichte sofort wohlfühlen. Die Einheimischen sind uns um drei schon locker vier Gläser voraus, was jetzt angesichts der Sprache schwer, am Laufverhalten aber leicht festzustellen ist, und wir bemühen uns schnell aufzuholen, um beim Billard möglichst umumwunden einen schönen Faustkampf anzuzetteln. Gelingt uns nicht, denn unsere Gegner liegen müde auf dem Tisch, und die achtjährige Tochter der Wirtin malt lustige Zeichen in deren Gesichter.
Wir werden auch langsam müde und vor allem hungrig, beschließen, nicht im Alten Bahnhof alte Pizza zu bestellen und gehen zurück ins Hotel, um unsere charmante Nierenkranke nach den leckersten hausmännischen Speisen hier in der Gegend zu fragen.
Hier um die Ecke sei die Tiroler Wurstnudelskihüttn, da gibt’s suppa Brettla, oder für’s Schnitzel sollten wir doch ins rote Ross, das sei das älteste Lokal am Ort und außerdem was richtigs zum Saddessn.
Die Wurstnudelhüttn hatte leider geschlossene Gesellschaft, aber das rote Ross lag nur knapp am anderen Stadtflügel, marschierbar, was gut für Kopf und Hunger ist.
Tür auf. Depression. Der undefinierbar alte Kellner schießt auf uns zu, sagt, dass es ganz schwer sei, weil ab halb acht wird’s hier immer recht voll (wir sind mit dem Kellner drei im Lokal), aber er findet noch eine Ecke für uns, wenn wir unbedingt wollen. Das rote Ross ist Teil des Schnitzelparadies (Chemitz, Dessau, Plauen, Hof), und wir wollen, weil wir unbedingt was trinken müssen. Ein Siebenminutenpils, sechs Minuten Warten, eine Minuten Einschenken, haha. Danke Kellner, wir schenken gleich gerne zurück. Ziemlich feste. Und bitte dann gleich noch eins.
Die Schnitzelauswahl ist famos, vierzig von Schnitzel Hawaii bis zum falschen Schnitzel, mit Salat. Wir hoffen, wir kriegen einen echten alten Beilagensalat mit Bohnen, Karotten (geraspelt), roter Beete und Krautsalat, werden aber enttäuscht. Das Essen ist sogar ganz ok. Der dicke Bauch muß mit ein paar Pils (nein, bitte, den Witz hatten wir vorher schon) gepflegt werden. Und relativ früh, erschöpft vom Hofer Tag machen wir uns auf den Heimweg.
Kurz überlegen wir uns auf einen Absacker ins Big Ben zu ziehen, ein Tipp meines verbeamteten Schwagers, aber wir geben auf, weil uns keiner von denen, die wir auf der Straße treffen, so richtig verstehen will. Am nächsten Morgen, den ich wie gewohnt um 6:40 Uhr beginne, beschließen wir, auf dem Weg zu childerich die wunderschöne und wundersame B173 über Kronach (das wir nicht so recht finden, obwohl wir durchgefahren sein müssen) und Bamberg entlang zu cruisen. Und mit dieser Strecke kann man dann auch ganz leicht wieder mit Franken versöhnt werden.

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deutsche Leitkultur - offroad
Es hat schon was, sich einmal abseits der ausgetretenen Touripfade zu bewegen. Neuschwanstein, Brandenburger Tor, Reeperbahn - das sollte man wirklich den Europe-in-7-Tagen-Experten überlassen. Wirklich interessant wird es da, wo keines Menschen Fuß zuvor getreten hat. Ok, das war gemein. Trifft aber denn Kern der Sache. Wozu kostspielige Abenteuerreisen in ferne Länder unternehmen, wenn doch die deutsche Provinz gleich vor der Haustür liegt. Vielleicht sollten wir mal ein Konzept Germany for Maniacs arbeiten und das ganze an Lonely Planet verkaufen. Könnte ein Kassenschlager werden.

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Mikrotourismus
Ernsthaft, ich glaube daran. Wahrscheinlich hat fast jede Gegend Sehenswürdigkeiten, die keine Sau kennt, nicht mal die aus dem Stall nebendran.
Es fehlt halt ein Verzeichnis, so eine "Irgendwie anders, aber trotzdem auch Sehenswürdigkeiten"-Seite. Wäre ein nettes Projekt, und ich würde es Mikrotourismus (kein Treffer bei Google!) nennen.
In zwei Jahren wären wir dann auf der ITB in Berlin und kommen gerade hoch, wenn Wandern, Wellness und Bauernhofromantik wieder am Abklingen sind.

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Mikrotourismus - das ganz Große im ganz Kleinen
... man könnte vielleicht noch das Kriegerdenkmal erwähnen, das seit dem 70ger-Krieg nicht mehr upgedatet wurde und schon damals höchstens vier Gefallene, zwei Verwundete und einen an den Spätfolgen Eingegangenen aufführte. Seitdem muss Hof im Schonzustand gewesen sein und brauchte keine Soldaten zu stellen. Wahrscheinlich war die Beamten- und Festspielproduktion kriegswichtich. Im übrigen gab es zwei Kellner, ich glaube, der andere war ein Rübergemachter aus den 70ern, der seinen Style vor lauter Dankbarkeit seit damals einfach nicht mehr geändert hat, sodass er jetzt wieder voll gut kommt. Es kamen an dem Abend auch noch eine erweiterte Kernfamilie im besten Konfirmationsdress und der Direktor der Beamtenfachschule. Auf dem Weg zur Hausmusik mit dem Doktor, dem Apotheker und dem Herrn Gymnasialprofessor. Und darf ich dann schließlich noch, die Schleife zu den Kriegsgräbern machend, auf den Oderbruch bei Seelow verweisen. Seelow ist ca. eine Stunde östlich von Berlin und ca. 5 Minuten westlich von Polen. Dort fand '45 die letzte große Schlacht um Berlin statt, mit mordsvielen Toten, und in jedem, wirklich jedem Dorf gibt es ein abmontiertes Kriegerdenkmal aus dem Kaiserreich, ein sowjetisches Ehrenmal (ich möchte jetzt sofort ein Buch über sowjetische Ehrenmäler machen), und aus den 90ern KriegsgräberVolksfürsorge-Einrichtungen, die, auf die immer diese braunen Schilder mit den drei ockerfarbenen Kreuzen hinweisen. Wirklich klasse Kriegsgräber sind das, und ein Besuch lohnt sich. Soviel zum Thema Mikrotourismus, eine Geschäftsidee, die zum Erfolg führen muss, denn die Zeit ist reif für ein ganz neues Begreifen der Schönheit untergehender Orte, oder Orte, die noch niemals nicht untergegangen waren, und in denen bald niemand mehr wohnen wird außer dem Wolf, dem Bären und dem letzten Stasirentner.

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